Exkursion nach Erfurt und Berlin:
„Wie viel Streit verträgt die Republik?“
Streit gilt in Demokratietheorien als konstitutiv: Ohne Dissens keine Deliberation, ohne Kontroverse keine politische Entscheidung. Gleichzeitig kann Streit auch destabilisierende Effekte haben, Menschen fühlen sich von streitender Politik nicht angesprochen. Manchmal dienen unberechtigte Streitvorwürfe auch dazu den politischen Gegner zu diskreditieren: Dann werden ihm Polarisierung, gesellschaftliche Spaltung und "Delegitimation von Institutionen" vorgeworfen (doch solcherlei Vorwürfe sind nie ungeprüft zu übernehmen - zu viele Interessen stecken hinter solchen Vorwürfen.).
Die Exkursion nach Erfurt und Berlin Ende Oktober/Anfang November 2024 ging deshalb der Frage nach, wie Streit in der Bundesrepublik ausgetragen wird, wo seine produktiven Grenzen liegen und wann er zur Belastung für Demokratie und Gesellschaft wird. 24 Studierende waren dabei, ich habe das Programm organisiert, die Fachschaft organisierte die Übernachtungen und die Bahnfahren. Alles über das Programm finden sind im folgenden Beitrag.
Sonntag: Kommunalpolitik in Thüringen
Am Anreisetag in der Erfurter Jugendherberge fand ein Gespräch mit Christoph Zimmermann (SPD), Vizebürgermeister von Schmalkalden, über die Folgen der jüngsten Landtags- und Kommunalwahlen statt. Dabei zeigte sich, wie Konflikte an der Basis wirken und wie sich Parteienkonkurrenz, die Erfolge von Links- und Rechtsaußenparteien sowie lokale Problemlagen miteinander verschränken.
Montag: Medien und Parteienwettbewerb
Beim Besuch des MDR stand das Thema „Gleich- und Ungleichbehandlung politischer Parteien in den Medien“ im Mittelpunkt, insbesondere vor dem Hintergrund der MDR-Sommerinterviews. Nach Studioführungen (Fernsehen und Hörfunk) diskutierte der Redakteur Lars Sänger, der u.a. die Diskussionssendung „Fakt ist“ sowie die Sommerinterviews mit den Fraktionsvorsitzenden leitete, mit uns über die Aufgaben des MDR und die Herausforderungen der Mehrheitsbildung im Thüringer Landtag.
Im Anschluss war ein Gespräch mit Mirko Hempel von der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Krise der SPD im Spannungsfeld von AfD und BSW geplant. Die SPD hatte bei der Landtagswahl 6,1 % erreicht und damit den Sprung über die Fünfprozenthürde geschafft. Das Treffen wurde jedoch aus privaten Gründen kurzfristig abgesagt. Sehr bedauerlich, aber vielleicht klappt es ja zu einem anderen Zeitpunkt. Bereits Monate zuvor hatte Lillie Fischer, Mitglied des CDU-Landesvorstands in Thüringen, wegen Urlaubs abgesagt. Daher diskutierten wir ausführlicher mit dem "Fakt ist"-Redakteur Lars Sänger die Herausforderungen der Regierungsbildung nach der Landtagswahl in Thüringen. Vielen Dank an Lars Sänger und den MDR.
Dienstag: Historische Dimensionen – DDR-Diktatur
In der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße/Stiftung Ettersberg wurde die „trügerische Ruhe“ in der DDR thematisiert. Diktatorische Systeme unterdrücken Streit und erzeugen auf diese Weise eine scheinbare Stabilität. Langfristig jedoch führt das Verschweigen politischer und ökonomischer Systemfehler nicht zu einer Besserung, sondern zu deren Aufstauung. Durch die Verweigerung von Meinungsfreiheit und freien Wahlen verschärften sich die Probleme. Irgendwann bricht die Staumauer, und politische Indoktrination durch Staatsbürgerkunde, Denunziationen bei der Staatssicherheit, Spitzel-IMs, Zensur von Presse, Büchern, Fernsehen und Theater sowie freiwillige Selbstzensur werden wirkungslos. So war es auch in Erfurt während der friedlichen Revolution, als drei engagierte Frauen die Stasi an der Vernichtung von Akten hinderten und den Stasi-Trakt im Gefängnis Andreasstraße besetzten. Durch die Ausstellung führte uns der Leiter der Gedenkstätte, Dr. Jochen Voit.
Anschließend erkundeten wir Erfurt. Vielen Dank an Maybrit Weiner und Nele Wiemer, die eine tolle Rallye durch die Stadt organisiert hatten – großartig!
Interessant waren auch die Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern Erfurts. Besonders erinnere ich mich an ein Gespräch in der Straßenbahn mit einer Ruheständlerin und ehemaligen Theatermitarbeiterin, die die Veränderungen in Erfurt in den vergangenen Jahren schilderte. Sie sprach u.a. von einem „unsicheren Park“ und sichtbaren Veränderungen in der Innenstadt. Ob es sich dabei um ein Gefühl oder messbare Realität handelte, ließ sich nicht feststellen. Für die Betroffenen selbst ist diese Unterscheidung jedoch nicht entscheidend. Die mögliche Ursache – die Migrationspolitik – wurde nicht ausdrücklich genannt. Und das Dinge weder von unserer Exkursionsgruppe noch von der Rentnerin beim Namen genannt werden, das macht mir Sorgen. Selbstzensur ist kein funktionierendes Mittel gegen Missstände in einer Demokratie.
Mittwoch: Bundestag
Am Mittwochmorgen fuhren wir weiter nach Berlin. Gleich am Nachmittag besuchten wir den Reichstag und damit das Herzstück demokratischer Konfliktaustragung. Im Mittelpunkt stand die Reflexion über institutionalisierte Streitmechanismen, insbesondere die Arbeit in den Ausschüssen.
Donnerstag: Streit in Medien und Regierungshandeln
Am Donnerstag besuchten wir die tägliche Redaktionskonferenz der WELT. Tobias Blanken führte uns durch das neue Springer-Haus, in dem auch das Fernsehstudio von WELT und BILD untergebracht ist. Anschließend forderte uns Chefredakteur Jacques Schuster auf, Blattkritik zu äußern und die gestrige Ausgabe der WELT kritisch zu reflektieren. Moritz Koop übernahm diese Aufgabe hervorragend, und wir diskutierten mit der Redaktion rund eine Stunde lang die Mittwochausgabe. Für die Diskussion mit Jacques Schuster über die „Brandmauer“ als Grenze des politischen Streits blieb leider zu wenig Zeit – dennoch war es eine spannende Debatte über Medien, Medienwirklichkeit, Kritik an der WELT und am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Vielen Dank an Jacques Schuster und die ganze WELT-Redaktion für die kontroverse Diskussion.
Danach fuhren wir ins Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Dort diskutierten wir die Kontroverse über die Energiewende als gesamtgesellschaftliche Konfliktlinie. Befürworter betonten den erfolgreichen Ausbau regenerativer Energiequellen, was auch durch das Ministerium bestätigt wurde. Gemeinsam mit einer Ministerialdirigentin sprachen wir über die Förderung von Wärmepumpen, Elektroautos und Photovoltaikanlagen.
Sehr kritisch hinterfragt wurde, ob die letzten drei verbliebenen Kernkraftwerke wirklich abgeschaltet werden mussten, während gleichzeitig „schmutzige“ Braunkohlekraftwerke weiterlaufen. Auch die Kosten der Energiewende für einkommensschwache Haushalte wurden thematisiert. Zu diesem Zeitpunkt (31.10.2024, 15:00 Uhr) konnte die Bundesrepublik Deutschland ihren Strombedarf nicht vollständig selbst decken und musste Energie aus europäischen Nachbarstaaten beziehen – darunter Frankreich (u.a. Atomstrom) und Polen (Braunkohle), obwohl auch die deutschen Kohlekraftwerke auf Hochtouren liefen.
Freitag: Bundesrat
Am Abreisetag besuchten wir den Bundesrat. Hansjörg Holtkemeier hatte ein Planspiel zu den Aushandlungsprozessen zwischen Bundesländern und Bundestag vorbereitet. Föderale Auseinandersetzungen im Bundesrat verdeutlichen, dass Streit nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen politischen Ebenen ausgetragen wird. Die Studierenden erarbeiteten jeweils zu zweit die Position eines Bundeslandes zur Einlagerung von CO₂ unter Nord- und Ostsee sowie in Bayern. Das war eine handlungsorientierte Erfahrung zum notwendigen Streit zwischen den Bundesländern.